Interview mit Hans-Joachim Maaz in ‚der Freitag‘, Ausgabe 381522.09.2015 von Christian Füller
Interview
„Das ist keine ehrliche Reaktion“
Hans-Joachim Maaz: „Der reiche Westen ist mitverantwortlich. Wir haben ein wahnsinnig schlechtes Gewissen“
Der Psychiater Hans-Joachim Maaz warnt davor, neben den euphorischen Willkommensgesten nicht mehr über die Fluchtursachen zu sprechen
der Freitag: Herr Maaz, in München und anderen deutschen Städten werden Flüchtlinge euphorisiert empfangen. Was passiert da gerade?
Hans-Joachim Maaz: Mich beschleicht das Gefühl, dass sich einige mit ihrer Euphorie etwas vormachen. Es ist gerade so, als wollten sie das Gegenteil von dem zelebrieren, was sie wirklich bewegt: Dass sie nämlich Sorgen und auch Angst haben. Man will nicht wahrhaben, dass mit der Fluchtbewegung ein neues, sehr unübersichtliches Zeitalter anbricht – und überspielt es beinahe hysterisch.
der Freitag: Trotzdem ist es besser, sich an den Bahnhöfen über die Ankommenden zu freuen – anstatt ihnen feindselig zu begegnen.
Hans-Joachim Maaz: Ja, es ist gut, Menschen in Not zu helfen, der richtige Impuls. Ich bin überzeugt, dass unter den Helfern nicht lauter Hysteriker sind, sondern reife Menschen, die engagiert und richtig reagieren: Wir müssen jetzt handeln und helfen! Mich verwundert nur dieses kaum verständliche Klatschen. Könnte es sein, dass sich da einige in Wahrheit selber Mut zuklatschen? Dass sie froh sind, gleichsam ihren Schuldkomplex wegklatschen zu können? Mir kommt das so vor, als sei das oft mehr ein Reflex auf die deutsche Geschichte als eine ehrliche und souveräne Reaktion auf zehntausende Menschen, die allein in München jedes Wochenende ankommen.
Zur Person Hans-Joachim Maaz, 72, ist Psychiater, Psychoanalytiker und Autor. Er hat sich vor allem mit seelischen Folgen der deutschen Einheit beschäftigt
der Freitag: Wir erleben ein kollektives Helfersyndrom?
Hans-Joachim Maaz: Die tiefere Bedeutung des Helfersyndroms ist, dass wir anderen etwas Gutes tun, das wir eigentlich selber brauchen. Wir tragen irgendeine Schuld ab. So gesehen ist das Klatschen an den Bahnhöfen keine wirkliche Zuwendung, sondern ein Ventil für etwas ganz anderes. Die Leute schämen sich wahrscheinlich auch, weil sie ahnen, dass sie nicht ganz unschuldig sind an dem, was gerade passiert.
der Freitag: Wieso sind die Menschen hier schuld an Krieg und Vertreibung?
Hans-Joachim Maaz: In den Flüchtlingsströmen wird ohne Zweifel etwas von der Kehrseite unseres exzessiven Konsums sichtbar. Ist es nicht so, dass der reiche Westen mitverantwortlich ist an der Armut anderer Länder, an der Klimakatastrophe und manchem Krieg? Wir haben ein wahnsinnig schlechtes Gewissen, dass Tausende im Mittelmeer ertrinken. Mit dem kleinen toten Jungen erreichte das seinen Höhepunkt. Was wir in der Flüchtlingseuphorie erleben, ist in meinen Augen eine Übersprungshandlung, die aus einer Lebensweise im Westen resultiert, die – kurz gesagt – nicht in Ordnung ist. Die ganze Welt kann unmöglich so leben und prassen. Anders gesagt: Die Flüchtlinge holen sich nun etwas von dem Speck zurück, den wir uns angefressen haben.
der Freitag: Wie könnte man das Moment des Helfens rationalisieren und verstetigen?
Hans-Joachim Maaz: Wichtig ist, dass wir ein rationales System der Hilfe entwickeln. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Flüchtenden weder in Europa noch in Deutschland auf wenige Orte konzentrieren. Wir sollten darauf achtgeben, dass die Kommunen die Flüchtlinge aufnehmen und integrieren können. Das heißt, dass die Zuwanderer nicht in Massenunterkünften landen, sondern dass es von Anfang an Kontaktmöglichkeiten und Austausch mit den Bürgern gibt. Wir brauchen Plätze in den Schulen, und die Flüchtlinge sollten in Arbeit kommen. Aber wir dürfen nicht glauben, dass diese Flucht dazu da ist, unseren Wohlstandskapitalismus ungebrochen am Laufen zu halten. Wir müssen innehalten.
der Freitag: Was meinen Sie damit?
Hans-Joachim Maaz: Ich finde es verhängnisvoll, wenn die Industrie so tut, als seien die Flüchtlinge dazu da, unsere Leerstellen am Arbeits- und Ausbildungsmarkt zu stopfen. Das wäre fatal, weil es die Spirale der Ausbeutung des globalen Südens nicht unterbricht, sondern sogar noch perfektioniert. Was wir erleben, ist eine Zäsur: Wir müssen teilen, wir müssen abgeben, wir müssen unser Modell und diese Lebensweise in Frage stellen. Wir werden wieder einen Armutssoli zahlen müssen – und der wird anders als bei der Wiedervereinigung nicht dazu da sein, unseren Wohlstand weiter zu multiplizieren. Das Geld muss dahin gehen, wo die Menschen herkommen, als echte und wirksame Armutsbekämpfung. Die Idee, dass hier das Paradies wäre, ist falsch. Die Kanzlerin hat hier Fehler gemacht.
der Freitag: Sie hat an den Anstand der Menschen appelliert …
Hans-Joachim Maaz: … und sie weckt Hoffnungen, die nicht realistisch sind. Ich sehe das mit großer Sorge, manchmal denke ich – verzeihen Sie –, dass sie von allen guten Geistern verlassen ist. Ich glaube, dass Angela Merkel die Folgen, die ihre gut gemeinten Gesten auslösen, nicht durchschaut. Die Selfies von „Mama Merkel“ mit Flüchtlingen verbreiten sich in Windeseile im Irak und in Syrien, wo Millionen im Elend sitzen.
der Freitag: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Euphorie jetzt und mit den großen Pegida-Demos vor einigen Monaten?
Hans-Joachim Maaz: Beides sind irrationale Reaktionen auf dieselbe Frage: Wie gehen wir mit der Angst vor der Flucht um? Pegida war aus psychotherapeutischer Sicht Ausdruck der unbewältigten Wiedervereinigung. Es hat nie eine offene Auseinandersetzung über die Schwächen der Vereinigung gegeben. Das, was historisch so großartig zu bewerten ist, hat vielen Menschen Probleme bereitet. Die Enttäuschung über das neue System durfte aber nie artikuliert werden. Das hat sich nun viel später an dem Punkt von Flucht und befürchteter Islamisierung entzündet. Hier liegt der Zusammenhang. Wenn man so will, sind wir DDR-Bürger die ersten Flüchtlinge gewesen, die in den Westen geflohen sind. Wir sind übergelaufen mit der Hoffnung auf paradiesische Zustände. Wir sind der gleichen Illusion auf den Leim gegangen wie jene, die jetzt kommen.
der Freitag: Was bedeutet das für die jetzige Situation?
Hans-Joachim Maaz: Wer heute die Sorgen der Menschen wieder unterdrückt, begeht den gleichen Fehler wie damals. Wir können uns also über eine positive Willkommenskultur freuen. Aber wir sollten sie nicht übertreiben, um damit den Malus von Heidenau auszulöschen und nur das helle Deutschland zu zeigen. Das ist so, als würde man etwas Krebsartiges nicht erkennen und behandeln wollen. Mein Vorwurf ist, dass die Sorgen und Fragen der Menschen nicht ernst genommen werden: Was wird sich verändern? Wo ist mein Platz? Bin ich sicher? Darum geht es gerade. Wir dürfen das nicht verdrängen, sonst vertiefen wir die Spaltung.
der Freitag: Wie verläuft diese Spaltung?
Hans-Joachim Maaz: Die Politik teilt die Nation in ein dunkles und ein helles Deutschland. Auch die Medien sehen nur noch die Helfer auf der einen, die Hetzer auf der anderen Seite. Obwohl die jeweils der kleinere Teil der Gesellschaft sind. Beide spiegeln nicht die Seelenlage der Nation insgesamt wieder – und die ist grundsätzlich besorgt. Und es ist eine nachvollziehbare Haltung, beunruhigt und furchtsam zu sein. Von der Finanzkrise über Kriege mit unfassbaren Gräueltaten bis hin zu einer Völkerwanderung passiert gerade viel, das die Menschen ängstigt.
Das Gespräch führte Christian Füller.
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Dieser Beitrag erschien in Ausgabe 38/15.
Quelle: der Freitag – Das Meinungsmedium